ADAS-Systeme bewerten: UX, HMI und technischer Leistung
Fahrerassistenzsysteme (ADAS) haben sich weltweit als zentrale Innovation für mehr Sicherheit und Komfort etabliert. Doch wie gelingt eine Bewertung, die sowohl die technische Leistung als auch die Nutzererfahrung berücksichtigt – und das marktspezifisch?
Gemeinsame Fragestellung mit VW do Brasil: „Wie kann ein Bewertungsansatz entwickelt werden, der kundenorientierte und maßgeschneiderte ADAS-Lösungen für die südamerikanische Region ermöglicht und sich gleichzeitig auf andere Märkte mit unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten übertragen lässt?“
Herausforderungen im südamerikanischen Markt
Der südamerikanische Markt hat einen Anteil von ca. 5 % am weltweiten Automobilmarkt, und auch hier gewinnen Fahrerassistenzsysteme zunehmend an Bedeutung. Zwar überzeugen Sicherheits- und Komfortargumente viele Verbraucher – in der praktischen Anwendung bleiben die Systeme jedoch oft hinter den Erwartungen zurück. Aktuelle Forschungsergebnisse belegen eine weiterhin geringe Kundenzufriedenheit und Nutzerakzeptanz.
Ein wesentlicher Grund dafür ist die Vernachlässigung der User Experience und der ganzheitlichen Betrachtung von Fahrerassistenzfunktionen und Mensch-Maschine-Schnittstelle (HMI) bei der Entwicklung. Ob und wie intuitiv oder gar angenehm die Systeme für den Fahrer sind und wie gut Mensch und Fahrzeug miteinander interagieren, findet in der Entwicklung bislang kaum Berücksichtigung.
Hinzu kommen in Südamerika marktspezifische Besonderheiten, die keine Beachtung finden: Kulturelle Unterschiede, die den Fahrstil prägen oder die anspruchsvolle Infrastruktur. Schlechte Straßenverhältnisse, dichter Stadtverkehr, hohe Geschwindigkeiten auf Überlandstraßen und extreme Höhenlagen erfordern maßgeschneiderte Lösungen. Viele OEMs machen es sich einfach und übernehmen Plattformlösungen, die in Europa oder Asien gut funktionieren, unverändert nach Südamerika. Dieser Ansatz funktioniert in der Praxis nicht – die Erwartungen der Kunden bleiben unerfüllt, und die Systeme werden letztlich abgelehnt.
Ein integrativer Bewertungsansatz für lokale Anforderungen
Zur Bewältigung der beschriebenen Herausforderungen entwickelten wir einen ganzheitlichen Bewertungsansatz, der nicht nur technologische Aspekte abbildet, sondern auch die kulturellen, infrastrukturellen und nutzerbezogenen Gegebenheiten vor Ort einbezieht. Dieser Ansatz ermöglicht eine lokalspezifische, intelligente Bewertung von Fahrerassistenzsystemen – mit dem Ziel, maßgeschneiderte und zugleich übertragbare Lösungen zu schaffen.
Der entwickelte Bewertungsprozess:
- vereint funktionale Leistungsdaten, Benutzerfreundlichkeit und HMI-Kommunikation mit kulturellen Einflussfaktoren,
- basiert auf klar definierten KPIs,
- und ermöglicht die Korrelation objektiver Messgrößen mit subjektiven Nutzererlebnissen.
In enger Zusammenarbeit mit dem Team von VW do Brasil passten wir den Prozess an die regionalen Anforderungen an. Mithilfe der MXevalApp konnte sich das lokale Team rasch und strukturiert in das Studienkonzept einarbeiten – ein effizienter Startpunkt für valide, praxisnahe Erkenntnisse.
Studienaufbau zur integrativen ADAS-Bewertung
Für eine fundierte Analyse führten wir eine Probandenstudie mit 43 Teilnehmenden durch, darunter fünf Fachexperten. Im Fokus standen die ADAS-Funktionen Spurhalteassistent (LKA) und Adaptive Cruise Control (ACC) eines VW Taos (Modelljahr 2024), die im direkten Vergleich mit einem Konkurrenzfahrzeug getestet wurden.
Die Tests fanden unter realen Fahrbedingungen statt. Dabei wurden sowohl objektive Leistungsdaten der Systeme als auch subjektive Nutzerbewertungen erfasst. Zur strukturierten Erhebung und Auswertung qualitativer und quantitativer Daten kam die Bewertungs-App, MXevalApp zum Einsatz. Diese Methodenkombination ermöglichte eine integrative Bewertung des Nutzererlebens und der funktionalen Leistungsfähigkeit von Fahrerassistenzsystemen.
Erkenntnisse und Implikationen
Die Bewertung von Fahrerassistenzsystemen ist komplex: Neben objektiven Leistungsdaten spielen auch subjektive Eindrücke der Fahrenden eine zentrale Rolle. Bislang fehlten jedoch standardisierte Methoden, die beide Perspektiven integrativ abbilden.
Unsere Methodik zeigt großes Potenzial für eine marktübergreifende Standardisierung der ADAS-Bewertung. Sie bildet die Grundlage für eine gezielte Weiterentwicklung von Fahrerassistenzsystemen – im Sinne realer Kundenerwartungen. Besonders Zulieferer der ersten und zweiten Stufe sowie Dienstleister in den Bereichen User Experience, Usability und menschzentrierte Entwicklung profitieren von diesen Erkenntnissen.
Der integrative Bewertungsansatz liefert nicht nur valide Ergebnisse und konkrete Handlungsempfehlungen – er ermöglicht darüber hinaus einen skalierbaren Bewertungsrahmen, der sich an regionale Besonderheiten anpassen lässt und zugleich den Weg für eine marktübergreifende Standardisierung ebnet. So entsteht eine fundierte Basis für die zielgerichtete Weiterentwicklung von ADAS – weltweit und kundennah.
Weiterführende Informationen
- Vollständiges Paper
Wer tiefer in die Materie eintauchen und die detaillierte Analyse nachlesen möchte, findet im Paper wertvolle Einblicke.
„Holistic Evaluation Methodology of the User Experience of Driver Assistance Systems in the Combination of Human-Machine-Interface and Functional Performance”
Seda Aydogdu, Dr. Thomas Kersten, Kevin Schuler, Prof. Bernhard Schick and Gioele Micheli
- Veröffentlichung in der ATZ – Automobiltechnische Zeitschrift
Wir freuen uns, dass auch die ATZ die Bedeutung unserer Arbeit für die Automobilbranche unterstreicht und ihr einen eigenen Artikel in der April 2025 Ausgabe gewidmet hat:
„Bewertung von Funktionen für ADAS und HMI aus Kundensicht am Beispiel Brasilien“